Andere Journalisten hauen mit dem Rücken zum Fenster ihre Texte in die Tasten. Maximilian Reich nicht. Unser Autor tippt an Orten, an die keiner will, wo Schafe in der Überzahl sind und Strassenschilder Seltenheit. Dieses Mal berichtet Reich aus Nagarkot in Nepal.
Eine Geheimagentin sitzt vor mir an ihrem Schreibtisch und blickt mir tief in die Augen. „Sie wollen also nach Nepal!?“
Von wollen kann keine Rede sein. „Mein Chefredakteur zwingt mich dazu. Ich muss eine Reise-Kolumne über abgelegene Orte schreiben“, erkläre ich.
„Na, Sie haben ja einen netten Chef“, sagt die Spionin. Hinter ihr an der Bürowand hängt ein grosses Schild, auf dem steht: „Reisebüro“. Aber damit täuscht sie mich natürlich nicht. Es weiss ja nun wirklich jeder, dass Reiseagenturen in Wahrheit Tarnfirmen von Geheimdienstorganisationen sind. Die wären doch heutzutage überhaupt nicht mehr überlebensfähig. Selbst meine Oma bucht ihre Kaffeefahrten übers Internet. Ich wäre auch nicht hier, wenn mein Reisewunsch nicht so speziell wäre. „Können Sie ihn nicht einfach für mich eliminieren?“, frage ich hoffnungsvoll. Aber die Spionin lacht bloss, als ob ich einen Witz gemacht hätte. „Das wäre wohl ein bisschen übertrieben. Aber ich hab hier genau das richtige für Sie. Gucken Sie mal.“ Sie dreht ihren Computerbildschirm ein Stück zu mir und zeigt mir Bilder eines kleines Ortes vor einer beeindruckenden Gebirgskulisse. „Nagarkot!“ Sie sagt das so, als handle es sich dabei um eine geheime Parallelwelt hinter einem Kleiderschrank. „Ein kleines Bergdorf in Nepal mit einem fantastischen Blick auf das Himalaya-Gebirge.“
„Und wie komme ich dorthin?“, frage ich mit einem besorgten Blick. Nepalesische Airlines sind die gefährlichsten Fluggesellschaften der Welt. Immer wieder kommt es zu Abstürzen. Auf keinen Fall steige ich in so eine Kamikaze-Maschine.
Die Geheimagentin mit der Lizenz zur Reisevermittlung wirft einen kurzen Blick in ihren Computer. „Lufthansa oder Emirates fliegen mehrmals in der Woche nach Kathmandu. Von dort können Sie ein Taxi nach Nagarkot nehmen.“
Ein erleichtertes Seufzen flieht aus meinem Mund. „In Ordnung.“
Fünf Millionen Menschen und ein Max
In Kathmandu leben fast eine Million Menschen. Sagt jedenfalls Wikipedia. „Totaler Schwachsinn“, sagt mein Taxifahrer. „Es sind knapp fünf Millionen“, stellt er klar, während er mit mönchsgleicher Gelassenheit das Auto durch den Verkehr bugsiert. Vor meinem Beifahrerfenster hupen sich Armeen von Motorrollern und klapprigen Autos gegenseitig an. Fussgänger auf den Bürgersteigen tragen Atemschutzmasken gegen den Smog, der wie eine graue Decke über der Stadt hängt. (Städte wie New York oder Berlin wirken dagegen wie Kurorte zum Durchschnaufen. Bad Berlin sozusagen.) Am Strassenrand stehen schäbige Häuser mit unverputzten Fassaden, an denen vergilbte Werbeschilder und Stromkabel herunterhängen. Nein, eine Schönheit ist Kathmandu nicht. Zwischen 1996 und 2006 tobte in Nepal ein Bürgerkrieg. Viele Menschen flohen damals vom Land in die Hauptstadt, weil es hier sicherer war. Es kam zur Wohnungsnot und die Häuser schossen aus dem Boden wie Pickel aus der Mischhaut eines Jugendlichen. „80 Prozent der Häuser sind illegal gebaut“, erklärt mein Taxifahrer. Welche Folgen das haben kann, hat man bei dem schrecklichen Erdbeben im Jahr 2015 gesehen, als 8’786 Menschen starben. Die einzige Ausnahme ist „Thamel“. Der kleine Bezirk wirkt wie eine Filmkulisse. Schmale Gassen, in die das Sonnenlicht schräg von oben zwischen die hohen Häuser fällt, von denen bunte Gebetsfähnchen hängen. Farbenfrohe Teppichgeschäfte reihen sich an glitzernde Schmuckläden, und der Geruch von Duftstäbchen hängt in jeder Ecke. Ob ich dafür aber den weiten Flug empfehlen würde? Eher nicht. Trotzdem gibt es vielleicht ein paar Besserwisser, die sich nicht davon abhalten lassen wollen – oder ihr Ticket nicht mehr umtauschen können. Daher hier ein paar Tipps: Die besten „Momos“ gibt es in dem Restaurant „Mo:Mo Star“ in einer kleinen Seitenstrasse von Thamel. Zehn Stück der traditionellen Teigtaschen kosten hier bloss 1 Euro. Den besten Blick über Kathmandu hat man vom „Monkey Temple“ aus, und wer eine Auszeit vom hektischen Strassenverkehr braucht, kann sich im „Garden of Dreams“ ausruhen. Ein hübsch angelegter Park mitten in Thamel, den hohe Mauern ringsherum vom Trubel abschotten. Abends trifft man in „Sam’s Bar“ Europäer auf ein Bier, die zum Everest hinauf wollen. Einen Starbucks gibt es hier übrigens nicht – aber die nepalesische Kette „Java Himalaya Café“ ist praktisch das gleiche. So, das muss reichen. Zwei Tage in Thamel sind sowieso genug. Ich bleibe lediglich noch einen dritten Tag, wegen des Holi Fests, dem Frühlingsfest der Hindus, das jedes Jahr im März stattfindet. Auf den Hauptplätzen hängen Musikboxen, oder Bands spielen live, alle Einwohner kommen aus den Häusern hinaus auf die Strasse und liefern sich die grösste Farbenschlacht, die man sich nur vorstellen kann. Eine Art farbige Kreide wird jedem ins Gesicht geschmiert, der vorbei kommt, und bunter Staub fliegt durch die Luft. Es müssen fast 2’000 Menschen sein, die im Zentrum, dem „Durbar Square“ zusammen friedlich feiern. Ich habe noch nie eine so ausgelassene Stimmung erlebt, ohne dass es Alkohol gibt. Und eins muss ich bei aller Kritik sagen: Selten habe ich so liebenswerte Menschen kennengelernt wie die Nepalesen. Und offenbar will jeder unbedingt den weissen Touristen mit dem bunten Puder einreiben. Als sich die Menge gegen 17 Uhr allmählich auflöst und auch ich zum Hotel zurück schlendere, sehe ich aus wie Braveheart auf dem Christopher Street Day.
Keine Sicht auf den Everest
Mir klebt immer noch ein bisschen von der hartnäckigen Farbe am Hals, als ich am nächsten Morgen nach Nagarkot aufbreche. Busverbindungen gibt es keine, man muss für knapp 25 Euro ein Taxi nehmen. Nachdem wir uns endlich aus dem Verkehrssumpf von Kathmandu befreien konnten, werden die Autos weniger und die Häuser entlang der Bundesstrasse seltener. Durchatmen. Der Fahrer drückt aufs Gas und führt uns durch kleinere Ortschaften und schliesslich auf einer Serpentine einen schroffen Berg hinauf, an dem das farblose Gras vereinzelt herunterhängt wie das Resthaar am Schopf meiner Grossmutter. Alle paar Meter steht am Wegesrand ein dreckiger Wellblechstand und bietet warme Limo an. Von Touristen keine Spur. Ich muss schlucken. Wenn mir hier etwas passiert, findet mich kein Mensch. Ich kenne solche Orte aus Filmen: Man wird mich kidnappen und meine Organe auf dem Schwarzmarkt verkaufen. Wäre ich doch bloss Raucher. Oder Trinker. Das könnte mir hier vielleicht das Leben retten. Diese verdammten Polizisten damals bei uns in der 4B mit ihrem blöden Sucht-Präventions-Puppentheater.
Nach zwei Stunden erscheint vor uns plötzlich ein Marktplatz. Er ist nicht grösser als ein Fussballplatz, um den herum sich klapprige Restaurants aufgestellt haben, von deren Dächern auch hier die bunten Gebetsfähnchen wehen. Hübsch ist es nicht, aber zumindest schöpfe ich wieder Hoffnung, hier lebend herauszukommen. Am Rand des Platzes steht mein Hotel. Das kleine Zimmer ist sauber mit einem komfortablen Bett in der Ecke, aber ein bisschen kalt. Ich kontrolliere die Klimaanlage, doch die ist ausgeschaltet. Ich ziehe die Vorhänge auf, um nachzugucken, ob möglicherweise ein Fenster offen ist, aber das ist geschlossen. Bei der Gelegenheit eine kleine Anmerkung: Mein Hotel heisst „Mount Everest Window View“. Allerding blickt mein Fenster auf eine Wiese, nicht breiter als ein Teppich. Dahinter verdecken Bäume die Sicht, und auf der Wiese kackt ein Strassenköter. Aber ich vermute mal „Hundewiese Window View“ lockte auf Booking.com nicht so viele Besucher an. Als nächstes inspiziere ich das Badezimmer, und nun sehe ich, woher die kalte Luft kommt. Das Fenster im Bad verfügt über keine Glasscheiben. Lediglich eine Art Jalousie hängt davor, die sich aber auch nach mehreren kraftvollen Versuchen nicht zuziehen lässt. Na super. Neben der Kloschüssel befindet sich ein Wasserschlauch. Na klar. Eine Million Motorräder knattern ohne TÜV durch die Innenstadt, aber dann beim Klopapier sparen, weil ein Wasserschlauch im Arsch Papier spart und umweltfreundlicher ist.
Es klopft. Eine kleine Frau im traditionellen Gewand steht vor meiner Tür und fragt, ob alles in Ordnung sei. Angesichts ihres hohen Alters ist sie weniger ein Zimmermädchen als eher eine Zimmeroma. Sie spricht kaum Englisch. Sie fragt: „Alles gut?“
Ich: „Es ist ein bisschen kalt.“ Ich deute in das offene Badezimmer. In vielen nepalesischen Unterkünften gibt es keine Duschkabinen wie in Westeuropa. Stattdessen ist der komplette Raum gefliest, und an der Wand hängt eine Duschbrause. Deshalb kann man den Raum nicht mit Strassenschuhen betreten. Da ich aber noch meine Lederstiefel trage und es eine Stunde dauern würde, die Schnürsenkel aufzuflechten, deute ich nur von aussen in den Raum. „Können Sie mir sagen, wie ich das Fenster im Badezimmer schliesse?“
Die Zimmeroma: „Putzen?“
Ich: „Nein, das Fenster. Wie macht man es zu?“
Die Zimmeroma: „Okay, ich putze.“
Ich: „Nein, nein. Nicht putzen. Sehr sauber. Aber kalt. Fenster zumachen.“
Naja, jedenfalls schrubbt sie jetzt gerade das Waschbecken.
Ich mag es nicht, wenn andere mir hinterherputzen, während ich im Raum bin. Da bin ich zu sehr Gentleman. Deshalb verlasse ich das Zimmer und erkunde solange den Ort. Viel gibt es allerdings nicht zu sehen. Der kleine Marktplatz ist eigentlich schon alles. Von dort zweigt ein Wanderweg ab, der zu einem Aussichtsturm führen soll, von wo aus man das Himalaya mit seinen Stars, dem Everest und dem Annapurna sehen kann, wie die Reise-Spionin es mir auf dem Computer gezeigt hatte. Die Wanderung führt durch einen Waldweg den Berg hinauf. Immer wieder muss ich Verschnaufpausen machen, und Einheimische, die mit ihren Motorrädern vorbeifahren, grinsen mich aufmunternd an. Nach einer Stunde bin ich endlich oben angekommen und sehe: nichts. Man müsste ja meinen, der größte Berg der Welt würde irgendwie auffallen – denkste. Der Mount Everest ist komplett verdeckt von Nebel und Wolken. Hätte ich es nicht im Internet vorher gelesen – ich würde nicht wissen, dass ich gerade vor dem
Himalaya stehe. Es könnte genauso gut der Schwarzwald sein. Enttäuscht stapfe ich wieder zurück. Immerhin: Auf dem Rückweg komme ich am „Himalayan Club Ressort“ vorbei. Einem Luxushotel für wanderlustige Touristen, wo es den einzigen Cappuccino im ganzen Ort gibt. Das noch als weiteren Tipp.
Einfach liegen bleiben
Am nächsten Morgen nimmt mir mein Körper immer noch übel, dass ich die Wanderung gestern in meinen halbhohen Lederstiefeln gemacht habe anstatt in Wanderschuhen mit ergonomischen Einlegesohlen, und bestraft mich nun dafür mit unerträglichen Rückenschmerzen. Es fühlt sich an, als würde ein kleines Männchen mit einer Kneifzange meinen unteren Lendenwirbel quetschen wie eine Walnuss. Ich muss mich aus dem Bett rollen und schaffe es nur mit zusammengebissenen Zähnen, mich überhaupt aufzusetzen. An ein Anziehen meiner Schuhe ist nicht zu denken. 20 Minuten versuche ich einen Stiefel zuzubinden, aber sobald ich mich auch nur nach vorne beuge, um nach dem Schnürsenkel zu greifen, drückt das blöde Männchen seine Kneifzange noch fester zu, und die Tränen schiessen mir in die Augen. Wenn ich es wenigstens ins Badezimmer schaffen würde. Möglicherweise lindert eine heisse Dusche die Beschwerden. Plötzlich klopft es an der Tür.
„Herein“, ächze ich.
Die Zimmeroma betritt schüchtern mit einem Putzkübel in der Hand das Zimmer.
„Sie schickt der Himmel“, stöhne ich, während ich auf meiner Bettkante zusammengesunken hocke, hilflos wie ein debiler Rentner auf dem Nachttopf. „Könnten Sie mir vielleicht helfen aufzustehen und mich bis ins Bad stützen?“
Die Zimmeroma hebt den Putzkübel in die Höhe. „Bad putzen?“
Himmel Arsch und Zwirn, die ist ja ganz versessen aufs Bäderputzen.
„NEIN! Sie müssen mir bitte ins Bad helfen.“
„Okay“, sagt sie und verschwindet mit ihrem Kübel im Bad. Ich kann das Scheuern ihres Lappens auf dem Fussboden nebenan hören. Kraftlos lasse ich mich zurück auf die Matratze fallen. Ich bleib einfach so liegen, bis zu meinem Heimflug. Das Fazit meines Textes hab ich schon im Kopf: Dreckig ist es in Nepal. Aber die Badezimmer sind blitzeblank.
Wieder macht sich unser Autor Maximilian Reich auf den Weg, um für uns den Arsch der Welt zu erkunden. Meistens ist es dort saulangweilig. Deshalb hat er viel Zeit zum Schreiben und nun seinen neuen Roman veröffentlicht: „Reisemuffel an Bord“ (Benevento Verlag, 16 Euro).