Sie ist der viktorianische Kelch in einem Regal voll pinker Stanley Cups. Gerade weil Winona Ryder schon immer mehr Halloween als Hollywood war, ist die Schauspielerin eine Ausnahmeerscheinung in der Traumfabrik geblieben – und Schutzpatronin all jener TeenagerInnen, die auch zum Sommerpicknick im Park ein Paar schwarze Schnürstiefel überstülpen.
Auf einer Couch wurde sie zum ersten Mal ins Rampenlicht getragen. Doch prallte dieses ab auf einem schwarzen Strohhut, so groß wie ein Badezimmerteppich. Um den Hals trug sie eine Fotokamera, die so schwer wie ein Schiffsanker schien, doch in Wahrheit ihr Schlüssel zu dieser und zur nächsten Welt war. Winona Ryders Auftritt als Lydia Deetz im Film „Beetlejuice“ machte die damals 15-Jährige von der ersten Sekunde an zum Star. Mit rabenschwarzer Kleidung, schneeweißem Teint und lilafarbenen Augenringen etablierte sie die Farbpalette jugendlicher AußenseiterInnen auf der Kinoleinwand. Zwar hatte Hollywood zuvor schon mit dem Goth-Chic geflirtet. Doch Kunstfiguren wie Vampira und Elvira wurden nicht zu Kultdiven, indem sie seelische Abgründe offenbarten, sondern weil ihre eng geschnittenen Outfits anderweitig tief blicken ließen. Mit Lydia Deetz aber schuf Winona Ryder den Prototypen des heimlichen Happy Goths. Jemand, der sein Glück darin findet, von der Welt nicht verstanden zu werden. Dessen Sarkasmus und Schwermut als Schild dienen vor jenen Menschen, die ihren Kürbis nicht bereits im August als Fratze geschnitzt mit einer Kerze ins Fenster stellen, sondern bei Starbucks als Zuckergetränk ordern. Doch jede Abgrenzung ist auch eine Einladung für Gleichgesinnte, selbst wenn diese dadurch umso schwieriger zu finden sind. Das Internet präsentiert inzwischen jedem Sonderling einen subkulturellen Algorithmus von Wesensverwandten. In den 1980er Jahren aber fanden sich dank Lydia Deetz all jene zum vielleicht ersten Mal gesehen und verstanden, deren Freundeskreis aus einem Poster von The Cure und fünf Tassen Kaffee an einem Freitagabend bestand. TeenagerInnen wollen einzigartig sein, aber nicht alleine. Diese kleine Frau unter dem riesigen Hut gab vielen davon das Gefühl, dass es da draußen noch mehr von ihnen geben muss. Und dass einige von ihnen noch Großartiges erwartet – so wie auch Lydias Darstellerin. Denn diese unterscheidete sich zum damaligen Zeitpunkt nicht wesentlich von ihrer cineastischen Kreation.
Somewhere Over the Rainbow
Winona wurde 1971 auf einer Farm in, äh, Winona im Bundesstaat Minnesota geboren. Ein Jahr zuvor hatten ihre Eltern in San Francisco die Fitz Hugh Ludlow Memorial Library gegründet, die damals weltweit größte Bibliothek aus Büchern über psychoaktive Drogen. Damit legten sie auch den Grundstein für eine außergewöhnliche Kindheit. Mit Babysittern wie Beat-Pionier Lawrence Ferlinghetti und LSD-Advokat Timothy Leary verbrachte Winona ihre Kindheit in einer Kommune namens Rainbow. Auf Bettlaken projizierte ihre Mutter Hollywood-Klassiker, die das junge Mädchen zwar noch nicht verstehen konnte, dabei aber eine unbändige Begeisterung für Filme entwickelte. Das anregende, alternative Umfeld machte aus Winona schon früh eine alte Seele mit jungem Geist. Dies, zusammen mit ihrem burschikosen Aussehen und Kleidungsstil, sorgte für keinen warmen Empfang an der Grundschule und später an der High School. Dem Mobbing konnte Winona zumindest zeitweise entfliehen, indem sie sich an einer Schauspielakademie einschrieb und mit 13 Jahren ihre erste Filmrolle ergatterte. Im Drama „Lucas“ debütierte sie an der Seite von Corey Haim und Charlie Sheen – den Beweisstücken A und B im Prozess, was Hollywood mit seinen Jungtalenten anrichten kann. Dessen waren sich auch Winonas Eltern bewusst. Um ihre Tochter so lange wie möglich von den Versuchungen zwischen Sunset Boulevard und Mulholland Drive fernzuhalten, zogen sie für die aufkeimende Schauspielkarriere ihres Sprösslings nicht nach Los Angeles, sondern stiegen zu jedem Casting für eine siebenstündige Autofahrt in den alten Familien-Volvo. Dieser parkierte nicht unweit von einem Studio im L.A.-Stadtteil Culver City, als Winona Ryder die vielleicht wichtigste Bekanntschaft in ihrem Leben machte. Vor dem Gebäude kam die Teenagerin mit einem jungen, wirrhaarigen Kerl ins Gespräch, den sie für einen Produktionsassistenten hielt. Die beiden unterhielten sich unter anderem über den Künstler Edward Gorey und den Schauspieler Peter Lorre – Namen, bei denen längst nicht nur Winonas damalige SchulkameradInnen ahnungslos mit den Schultern zuckten. Als sie ihr Gegenüber fragte, wann dieser Regisseur namens Tim Burton auftauchen würde, gab er sich als dieser zu erkennen. Und castete das Mädchen mit den zerschnittenen Stirnfransen und Augen so groß wie Oreo Cookies auf der Stelle für seinen nächsten Film „Beetlejuice“.
Suicide Blondes & Vampire Killers
Nach dem Erfolg der knallbunten Horrorkomödie standen Winona alle Türen offen. Sie wählte jene, an die ihr Management am liebsten ein Vorhängeschloss gehängt hätte: „Heathers“ ist eine Satire über Teenager-Suizide und Schulhaus-Amokläufe aus einer Zeit, als man so etwas noch im Kino und nicht wöchentlich in den Nachrichten sehen konnte. Heute genießt Winonas Darstellung einer Brünette in einer Welt voller Blondinen Kultstatus. Doch damals machte das Publikum einen so weiten Bogen um „Heathers“ wie ein schlecht geschlagener Krocketball. Egal: Winonas Beharren, gegen Anraten ihrer Agenten im Film mitzuspielen, zeigte, dass die damals 16-Jährige ihren eigenen Erfolgspfad legen wollte und dieser oft auf seltsame, aber umso spannendere Abwege führte. Nur ein Jahr später feierte Winona zurück unter der Regie von Tim Burton mit „Edward Scissorhands“ erneut einen Kassenschlager.
Es folgten die Jahre auf Hollywoods A-Liste. Für Francis Ford Coppola stand Winona Ryder in „Bram Stoker’s Dracula“ vor der Kamera (ein Film, den Lydia Deetz geliebt hätte). Wobei bis heute nicht klar ist, ob Keanu Reeves’ britischer Akzent oder der blutdurstige Vampirfürst der eigentliche Horror ist. In Martin Scorseses opulentem Kostümdrama „The Age of Innocence“ etablierte sich Winona endgültig als vielschichtige Schauspielerin und erhielt ihre erste Oscar-Nominierung. Und im Jahr 1999 gelang es ihr schließlich, mit „Girl, Interrupted“ nicht nur als Hauptdarstellerin, sondern auch als ausführende Produzentin ein lang gehegtes Herzensprojekt zu realisieren. Die Literaturverfilmung beschreibt die Freundschaft zweier Frauen in einer Psychiatrie und lancierte unter anderem die Karriere von Angelina Jolie.
Welcome to Hollyweird
Doch nicht nur auf der Leinwand geriet Winona an ihre mentalen Grenzen. Ein Jahrzehnt lang hatte sie vor den Filmkameras verbracht, aber auch vor den Objektiven der Paparazzi. Als It-Girl widerwillen, das in Second-Hand-Klamotten über den Roten Teppich schlurfte und inzwischen nicht nur die AußenseiterInnen auf dem Pausenplatz repräsentierte, sondern zur Symbolfigur der verloren umherirrenden Gen X hochstilisiert wurde. Winonas Liebe zu Filmen war ungebrochen – ihre Liebe zur Filmindustrie und all den daran saugenden Blutegeln war hingegen komplett erodiert. Deshalb kam der folgende Non-Skandal geradezu als Erlösung: 2001 wurde Winona Ryder beim Ladendiebstahl erwischt. Kleider im Wert von über 5’000 Dollar trug sie aus einer Boutique in Beverly Hills. Was sie dazu veranlasste, daran kann sich die Schauspielerin rückblickend nicht erinnern. In Interviews nennt sie eine mögliche Mischung aus Benommenheit von Schmerzmedikamenten, stressbedingter Vergesslichkeit und dem unbewussten Wunsch, erwischt zu werden. Die Presse berichtete in einer Hysterie, als hätte Winona soeben ein drittes Flugzeug in das World Trade Center gesteuert. Sie erhielt drei Jahre Haft auf Bewährung – und eine dringend benötigte Pause von La La Land.
Comeback Queen
Drei Dinge liebt Hollywood mehr als alles andere: Filler, Franchises und eine verdammt gute Comebackstory. Ersteres hat Winona nicht nötig. Zweiterem steht sie skeptisch gegenüber (bis heute hat sie noch keinen Marvel-Film gesehen). Doch dritteres gelang ihr im Jahr 2016 mit der Serie „Stranger Things“. Auf diesem visuellen Mixtape voller 80s-Nostalgie ist Winona Ryder die Powerballade. Als besorgte und über sich hinauswachsende Mutter Joyce Byers repräsentiert sie das blutende, schlagende Herz inmitten des Mystery-Horrors. Und es ist das perfekte Wiedersehen für all jene Fans der ersten Stunde, die sich vielleicht inzwischen selber mit einer echten Lydia am Familientisch herumschlagen müssen. So ist es auch der fiktiven Miss Deetz im neuen Film „Beetlejuice Beetlejuice“ ergangen. In der lang ersehnten Fortsetzung spielt Winona Ryder an der Seite von Jenna Ortega. Jenem Nachwuchsstar, der seit der Hauptrolle in der Serie „Wednesday“ mit rabenschwarzer Kleidung, schneeweißem Teint und lilafarbenen Augenringen einer neuen Generation zeigt, wie man auf der Tanzfläche zu einem Song der Cramps die Abschlussballköniginnen dieser Welt an die Wand tanzt. Denn der von Winona Ryder einst etablierte Archetyp der abseits stehenden Sarkastikerin mit dem schwarzen Dress und Herz aus Gold blüht auch nach 30 Jahren in unserer Popkultur weiter – im Schatten und unter Dauerregen, versteht sich.
Beetlejuice Beetlejuice
Zurück auf Anfang: Winona Ryder schlüpft wieder in die Rolle, die sie einst zum Star machte. Inzwischen ist Lydia Deetz selbst Mutter einer launischen Teenagerin (Jenna Ortega). Als die Familie nach einem Todesfall für die Bestattung in die alte Heimat zurückkehrt, ruft dies auch den Geist und Bio-Exorzisten Betelgeuse (Michael Keaton) auf den Plan – dieser sucht nämlich noch immer eine Heiratswillige aus dem Reich der Lebenden. Regisseur Tim Burtons Reanimierung ist geglückt: Auch in der Fortsetzung bleiben der chaotische Charme und morbide Look des Originals haften wie feuchte Erde an einer Friedhofsschaufel.
Wir lieben HeldInnen und Legenden. Hier findest du eine weitere Ladung davon.
Ob sich „Beetlejuice Beetlejuice“ lohnt? Schau selbst.
Fotos: © Craig McDean