Vor der Kamera steht eine schöne junge Frau, dahinter ein älterer Mann: ein Szenario so alt wie die Modeindustrie selbst. Es geht aber auch anders. Bunt und bizarr inszeniert die italienische Modefotografin Lucia Giacani die Frauen vor ihrer Linse und kreiert dabei Welten irgendwo zwischen High Fashion und Alice im Wunderland. Wir haben sie zu ihrer Karriere befragt.
Dass Fotografinnen die Modeindustrie mitprägen, zelebriert die Ausstellung Sguardi di Intesa in Aosta, in der Lucia Giacanis Fotografien neben anderen Größen der Modefotografie bis September zu sehen sind. Im Interview verrät Giacani, wie sie sich den Weg in die Modewelt gebahnt hat, wo die Industrie noch Verbesserungsbedarf hat und warum sie am liebsten rothaarige Frauen vor der Kamera hat.
FACES: Die Modebranche ist eine Männerdomäne – außer bei den Models. Wie stellen Sie durch Ihre Arbeit Geschlechternormen und Stereotypen in Frage? Und wie fühlt es sich an, in einem von Männern dominierten Bereich zu arbeiten?
Lucia Giacani: Es ist schon so, dass die Modefotografie noch immer von Männern dominiert wird. Das war zu Beginn meiner Karriere sicherlich noch stärker der Fall. Aber es gibt auch viele schwule Männer und lesbische Frauen, mit denen ich zusammenarbeite, so dass ich nicht glaube, dass man alles so schwarz und weiß sehen und in Kategorien wie männlich und weiblich einteilen soll. Guter Geschmack ist der gemeinsame Nenner für den Erfolg. Am Anfang meiner Karriere habe ich viel mit Elisabetta Barracchia, Sara Minor und der damaligen Chefredakteurin der italienischen Vogue Franca Sozzani zusammengearbeitet. Die toxische Männlichkeit der alten Garde von Fotografen, Chefredakteuren und Bildredakteuren gehörte bereits damals der Vergangenheit an.
FACES: Ihre Arbeit ist in einer Ausstellung über weibliche Modefotografie zu sehen. Was möchten Sie den BetrachterInnen über die Modeindustrie und insbesondere über die verschiedenen, oft übersehenen Rollen, die Frauen darin spielen, vermitteln?
Lucia Giacani: Fakt ist: Man muss härter arbeiten, um eine Fotografin zu werden. Die Leute wollen einem keine großen Budgets anvertrauen, da Männer als seriöser und sicherer angesehen werden. Frauen gelten oft als zerbrechlich und als Risiko. Und es gibt Leute, die der Überzeugung sind, dass man als Frau technisch weniger begabt sei. Ich hoffe, dass dieses Denken bald der Vergangenheit angehört und für die nächste Generation von Fotografinnen schockierend und kaum mehr vorstellbar sein wird.
FACES: Was hat Sie dazu bewogen, Mode zu fotografieren?
Lucia Giacani: Als Mädchen und junge Frau las ich immer die italienische Vogue. In den Neunziger- und Nullerjahren hatte die Vogue eine solche Magie und transportierte die LeserInnen förmlich in eine andere Welt. Die Modefotografie war unglaublich kreativ und majestätisch. Daraus folgerte ich, dass Modefotografie ein Beruf ist, der einem die größte künstlerische Befriedigung und kreative Freiheit gewährt, während gleichzeitig die Rechnungen bezahlt werden können.
FACES: Wie haben Sie Ihren Weg in die Modefotografie gefunden?
Lucia Giacani: Ganz am Anfang habe ich Magazine und StylistInnen in Mailand angefragt, ob ich Editorials für sie produzieren kann. Damals lebte ich noch gar nicht in Mailand und alles, was ich vorzuweisen hatte, war eine Schwarz-Weiß- und eine Farbmappe mit Arbeiten, bei denen FreundInnen meine Models waren. Dass mir die Magazine trotzdem Aufträge gaben, war auf jeden Fall ein Vertrauensbeweis.
FACES: War es schwierig, in der Branche Fuss zu fassen?
Lucia Giacani: Ich hatte das Glück, zu Beginn meiner Karriere die richtigen Leute auszuwählen, mit denen ich zusammenarbeiten konnte; sie sind alle noch in der Branche tätig und allesamt Top-Profis. Man braucht aber auch einfach ein gutes Urteilsvermögen. Es ist eine schwierige Branche, um Erfolg zu haben. Aber Risiko und Experimentieren gehören dazu und mit der Erfahrung wird alles einfacher.
Am Set kommt es manchmal zu einer emotional aufgeladenen Stimmung, bis am Ende alle zufrieden sind mit dem Ergebnis. Man muss sich selbst vertrauen und alles unter Kontrolle behalten. Wenn man gute Arbeit leistet und professionell mit den Leuten umgeht, mit denen man zusammenarbeitet, ist das zwar ein guter Anfang, aber man muss auch ehrgeizig sein. Heutzutage ist es wahrscheinlich einfacher, FotografIn zu werden, aber bestimmt schwieriger, aus der Masse herauszustechen.
FACES: Was ist für Sie persönlich Ihr größter Erfolg?
Lucia Giacani: Dass Franca Sozzani meine Fotos für verschiedene Magazin-Cover ausgewählt hat.
FACES: Welche anderen Fotografinnen haben Sie auf Ihrem Weg inspiriert?
Lucia Giacani: Während ich aufwuchs, gab es nicht viele Frauen, die in der Modefotografie tätig waren, und um ehrlich zu sein, habe ich auch nicht besonders darauf geachtet. Allgemein hat mich die amerikanische Fotografin Francesca Woodman bisher am meisten inspiriert.
FACES: Wie gehen Sie Ihrer Meinung nach anders an die Modefotografie heran als ein männlicher Fotograf?
Lucia Giacani: Das Geschlecht und die Sexualität bringen immer eine eigene Perspektive, egal ob Mann oder Frau. Ich persönlich bringe stets einen Teil von mir selbst in meine Fotografie ein. Die Frauen, die vor meiner Kamera stehen, behandle ich mit mehr Empathie. Und als Frau kann ich die Bedürfnisse, Wünsche und Reaktionen der Leserinnen und des weiblichen Publikums auf meine Bilder besser verstehen. Auch die jüngeren weiblichen Models fühlen sich oft wohler mit einer weiblichen Fotografin. Einer der vielen Gründe, warum ich lieber Frauen fotografiere, ist, dass ich die Aufnahmen aus der Ich-Perspektive sehen kann.
FACES: Was kann die Modeindustrie verbessern, wenn es um die Frauen hinter den Kulissen geht?
Lucia Giacani: Da gibt es einiges. Ich finde zum Beispiel, dass bei der Förderung von Fotografinnen ihr Aussehen keine Rolle spielen sollte. Es gibt Marken, Magazine und Fotografinnen, die sich so sehr selbst als Augenweide anpreisen und dabei noch irgendein fadenscheiniges feministisches Manifest zitieren. Das halte ich für ziemlich schädlich. Außerdem sehe ich viele Fotografinnen, die, um Erfolg zu haben, Instagram auf toxische Weise nutzen, was schade ist. Wir sollten die Fotografin nach der Qualität ihrer Arbeit beurteilen. Sie nicht als Prominente sehen und nach ihrem Make-up beurteilen, ihrer Körbchengröße oder den Leuten, mit denen sie feiern geht.
Andere wichtige Themen sind gleiche Entlöhnung und Arbeitsplatzsicherheit, was vor allem hier in Italien oft übersehen wird. Außerdem gibt es viel zu viele Fotokurse, die junge Menschen in einen übersättigten Markt führen.
FACES: Was wollen Sie mit Ihren Fotos vermitteln?
Lucia Giacani: Es fällt mir schwer, diese Frage zu beantworten, da ich mich besser visuell als verbal oder mit dem geschriebenen Wort ausdrücken kann.
Im Allgemeinen geht es um etwas, das ich interessant oder fesselnd finde und das ich möglichst geschmackvoll wiedergeben möchte. Manchmal ist es recht flüchtig, manchmal liegt den Fotos bereits zuvor eine Idee zugrunde. Ich bin nicht daran interessiert, Frauen offenkundig zu sexualisieren, ich ziehe es vor, sie als rätselhafte, komplexe Träumerinnen darzustellen.
FACES: Wie stellen Sie in einer Branche, die oft für die Darstellung unrealistischer Körperideale kritisiert wird, sicher, dass Ihre Fotografie Vielfalt und Inklusivität zelebriert, insbesondere in Bezug auf Körpergröße, ethnische Zugehörigkeit und Geschlechtsidentität?
Lucia Giacani: Die Freiheit, die wir heute haben, ist eine wunderbare Sache. Die positive Art und Weise, wie sich der Geschmack darüber, was veröffentlicht wird und was das Publikum sehen will, im Laufe der Jahre verändert hat, ist immens. Es ist eine der größten kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen, die ich je erlebt habe. Ich glaube jedoch nicht, dass meine Fotografie diese Konzepte offenkundig zelebriert. Für andere Fotografinnen sind es die grundlegenden Themen hinter ihrer Arbeit, für mich nicht unbedingt.
FACES: Glauben Sie, dass Frauen oder der „weibliche Blick“ – das Pendant zum allgegenwärtigen „male gaze“ – automatisch eine andere, inklusive Perspektive haben? Oder ist das etwas, das auch Sie erst lernen mussten?
Lucia Giacani: Wie ich bereits erwähnt habe, kommt ein großer Teil meiner Arbeit aus dem Inneren. Daher habe ich mich oder meine Arbeit nie auf bestimmte Weise positioniert. Dennoch fotografiere ich beispielsweise viele rothaarige Models, da sie meiner Meinung nach am besten zu meiner Ästhetik passen, obwohl ich dunkelbraunes Haar habe. Es ist schon wichtig zu verstehen, wie und warum man bestimmte Aspekte der Weiblichkeit darstellt. Ich hoffe, dass wir je länger je mehr nicht mehr allzu fest über die Weiblichkeit, die Schönheit und das Groteske streiten, sondern dass wir alle lernen können, einfach die Person zu sehen.
FACES: Der Modefotografie wird immer wieder vorgeworfen, Frauen zu objektivieren. Glauben Sie, dass es überhaupt möglich ist, Stereotypen in der Modeindustrie nicht zu reproduzieren?
Lucia Giacani: Ich nehme an, dass die Bildsprache und die Gesellschaft jetzt in die Post-Stereotypen-Ära eintreten. Aber: Die Gedanken ändern sich um einiges schneller, als es dann die Gesellschaft tut.
FACES: Wie möchten Sie also, dass die Frauen auf Ihren Fotos wahrgenommen werden?
Lucia Giacani: Als echte Schauspielerinnen.
FACES: Welches war Ihr Lieblingsfotoshooting?
Lucia Giacani: Tatsächlich mein allererstes Shooting in Mailand in einer verlassenen Fabrik: Ein Fashion Editorial für das Kult Magazine.
FACES: Was war Ihre liebste Zusammenarbeit mit einer Marke oder einem Model?
Lucia Giacani: Vogue Accessory ist der Ort, an dem ich quasi groß geworden bin.
FACES: Lassen Sie sich als italienische Künstlerin von Ihrem kulturellen Erbe inspirieren und machen Sie es auch zum Teil Ihrer Fotografie?
Lucia Giacani: Ja, ich liebe es zum Beispiel, seltsame italienische Orte zu verwenden.
FACES: Wer ist derzeit Ihre größte Inspiration?
Lucia Giacani: Meine Tochter!
Sguardi di intesa
Sommerzeit heißt für viele: ab nach Italien. Und es muss nicht immer Mailand sein. Im beschaulichen Aosta dreht sich bis September ebenfalls alles um Mode. Die Ausstellung „Sguardi di Intesa“ rückt Frauen in den Mittelpunkt, die in der Modeindustrie die Fäden im Hintergrund zusammenhalten. Von Fotografinnen bis Näherinnen zeigt Kuratorin Angela Madesani einen Querschnitt durch die Modegeschichte. Die Modefotografien von Lucia Giacani sind neben Ellen von Unwerth, Alice Springs oder Brigitte Niedermair in bester Gesellschaft.
Sguardi di Intesa: La moda fotografata dalle donne, 23. März – 22. September 2024
Centro Saint-Bénin, Via B. Festaz, 27, 11100 Aosta, Italien
Neugierig auf die Ausstellung geworden? Hier erfährst du mehr dazu.
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Fotos: © Lucia Giacani