Räume widerspiegeln Charakter und Persönlichkeit. Doch wann wird Raumgestaltung zur Kunst, wo kippen Schnörkel in Kitsch, und wann ist Minimalismus einfach nur langweilig? Phaidons „Interior“ ist Inspiration und Enzyklopädie zugleich und sammelt die Legenden unter den Wohnungen.
© Fernando Bengoechea
Tony Duquette & Hutton Wilkinson
Projekt: Palazzo Brandolini
Auftraggeber: Mr. & Mrs. John N. Rosekrans Jr.
Raum: Salon
Ort: Venedig, Italien
Fertigstellung: 1980er Jahre
Der venezianische Palazzo Brandolini am Canale Grande wurde im 12. Jahrhundert von der Familie Brandolini d’Adda erbaut. Tony Duquette (1914-1999) und sein Geschäftspartner Hutton Wilkinson gaben einem Raum im ersten Stock prunkvolle Verzierungen im Rokoko- und Barockstil und eine kühne Farbpalette. Die Philanthropin und Mäzenin Dodie Rosekrans bat Duquette und Wilkinson in den 1980er-Jahren, „einem neuen Leben in Venedig Gestalt zu geben“. Zu dem Zeitpunkt war Duquette bereits ein bekannter Künstler und Designer. Als Elsie de Wolfes Schüler hatte er oft widersprüchliche Elemente in ein dynamisches, exzentrisches Ganzes integriert. Zu seinen Projekten gehörten Interieurs, Schmuck, Kostüme und Bühnenbilder, zu seinen Auftraggebern unter anderem der Herzog und die Herzogin von Windsor, Gucci und Bergdorf Goodman. Mit seinem Blick für das Fantastische platzierte er Sofas, neben leopardengemusterte Vorhänge aus Seidensamt und einen antiken Oushak-Teppich, beide aus dem 18. Jahrhundert. Laut Wilkinson sollte für Duquette jeder Raum mehr als die Summe seiner Teile sein. „Er arbeitete immer vor Ort und fügte Schicht auf Schicht, Objekt auf Objekt und hörte dabei dem Raum zu.“
© Courtesy of Amy Lau Design, Inc./Kim Sargent
Amy Lau
Projekt: Haus in Central Park West
Auftraggeber: Privat
Raum: Wohnzimmer
Ort: New York, NY, USA
Fertigstellung: 2010er Jahre
Die in Arizona geborene Innenarchitektin Amy Lau gründete 2001 ihr Büro in New York. Seither hat sie eine Vielzahl von luxuriösen Wohnprojekten entworfen ebenso wie Installationen für Marken wie Kohler, Bergdorf Goodman, Lladró und Baccarat. Bei ihren Raumausstattungen kombiniert sie ihre natürlich-warme künstlerische Vision mit einem fundierten Ansatz, der darauf gründet, dass sie in bildender wie in dekorativer Kunst geschult und im Design des 20. Jahrhunderts bewandert ist. Ihr Ziel sind Räume, die sie als „lebhaft und bedeutungsvoll“ beschreibt. Sie realisiert sehr persönliche Wohnräume mit Vintage- und modernen Möbeln und standortbezogenen Ausführungen. Bei einem Familienhaus in Manhattans Central Park West beinhaltete dies eine massgefertigte Wand, die von den Konturen von Alvar Aaltos Savoy-Vase inspiriert ist und den Raumfluss in der L-förmigen Wohnung verbesserte. Diese Wand umgab eine riesige Säule in der Eingangshalle und führte die Besucher ab der Küche vorbei in den Wohnbereich. Als Herzstück der Wohnung enthält dieser Raum mehrere Polstermöbel aus der Mitte des 20. Jahrhunderts in heiteren Koralle-, zarten Blau-, Senf- und Minttönen. Ein massgeschneiderter Teppich verleiht dem Sitzbereich ein harmonisches Aussehen.
© Succession Yves Klein c/o DACS 2019
Yves Klein
Projekt: Klein-Apartment
Auftraggeber: Yves Klein
Raum: Wohnzimmer
Ort: Paris, Frankreich
Fertigstellung: 1949
Yves Klein (1928-1962), wurde berühmt für seine blaue Farbmischung, das patentierte International Klein Blue (IKB). Dieses Pariser Apartment bewohnte er mit der deutschen Künstlerin Rotraut Uecker. Bevor er dort einzog, wurden Wände, Türen und ein Ziegelsteinkamin weiss gestrichen. Rotraut Uecker erinnerte dieser Raum an Le Vide (die Leere), die in der Galerie Iris Clert als Kunstwerk präsentierten leeren Räume. Hier fanden sich oft Kritiker und Künstler wie Pierre Restany, Niki de Saint Phalle, Jean Tinguely sowie Christo. In der Abkehr von Darstellungen sah Klein seine Monochrome als Verwirklichung künstlerischer Freiheit – oder mit seinen Worten: „als Erlangen von Immaterialität“. Nach Kleins Tod 1962 liess Rotraut Uecker den hier gezeigten Couchtisch aus Acryl in dem ikonischen leuchtenden Blau pantentieren. Wenn sie sich in Paris aufhält, nutzt sie nach wie vor das Apartment, belässt aber den zentralen Raum so wie zu Kleins Lebzeiten. „Ich dachte, alles solle so bleiben, wie es ist. Man spürt den schöpferischen Reichtum, die vielfältigen Begebenheiten und die ausserordentliche Kunst, die er hier schuf.“
© Courtesy of Philip Vergeylen, Photo: Clive Nichols
Paolo Moschino & Philip Vergeylen
Projekt: Londoner Apartment
Auftraggeber: Paolo Moschino & Philip Vergeylen
Raum: Salon
Ort: London, England
Fertigstellung: 2012
Paolo Moschino, der nach seinem Sozialwissenschaftsstudium in seiner Heimat Italien nach Grossbritannien zog, hatte nicht den üblichen Einstieg in die Designwelt. 1995 kaufte er die Firma Nicholas Haslam und betreibt heute ihre Geschäfte im Zentrum Londons zusammen mit Philip Vergeylen, einem ehemaligen Marketingleiter aus Belgien. Der Firmenstil hat sich ständig weiterentwickelt: Während er anfangs vom englischen Design herrührte, ist er seit der Übernahme durch Moschino und Vergeylen eher international ausgerichtet. Das kontinentale Flair äusserte sich auch in ihrer eigenen Wohnung. „Sie sah nicht wie eine Londoner Wohnung aus; sie sah aus wie eine Pariser. Die Decken waren viel höher, die Räume viel breiter“, sagte Vergeylen. Sie strebten eine einladende Atmosphäre an. Hierzu schufen sie ein Esszimmer und verdoppelten die Grösse des Salons. Dieser Raum eignet sich für das gesellige Beisammensein und ist in zwei Hälften unterteilt: Die eine ist luxuriös im Stil des 20. Jahrhunderts, die andere mit dunkler Kiefernholzverkleidung und schweren Seidenvorhängen wird von den beiden vorangegangenen Jahrhunderten beeinflusst. Ein Stilmix durchzieht die ganze Wohnung, gleichwohl wirken Werke von Jean Cocteau, grosse Spiegel und das Eichenparkett als verbindende Elemente.
© Vladimir Kagan Design Group
Vladimir Kragan
Projekt: Villa
Auftraggeber: Privat
Raum: Wohnzimmer
Ort: Forest Hills, NY, USA
Fertigstellung: 1950
In diesem Wohnzimmer fügt sich ein gläsernerer Couchtisch in die entsprechende Rundung eines übergrossen Sofas des Designers Vladimir Kagan (1927–2016). Margaret Russell, sagte einmal, dass seine Möbel so aussähen, als würden sie sich unterhalten. Kagan wurde 1927 als Sohn russischer Eltern in Deutschland geboren und floh mit seiner Familie vor den Nationalsozialisten in die Vereinigten Staaten. Dort studierte er an der Columbia University Architektur und arbeitete gleichzeitigen für seinen Vater, einen Tischlermeister. Nach seinem Abschluss eröffnete Kagan ein eigenes Büro. Dieser Auftrag zeigt seine charakteristischen Wolkenformen, die Gestalter wie Zaha Hadid beeinflussten. Kagan ist für lange, niedrige Sofas, dreibeinige Glastische und dem Körper angepasste Stühle bekannt. Sein Interesse für Ergonomie und Anatomie führte zu den, wie er sie nannte, „Behältern für den menschlichen Körper“. Sofas und Stühle waren zur Unterstützung des Rückens nach der Krümmung der Wirbelsäule modelliert. Kagan ist Wegbereiter der sinnlichen Möbel mit weichen Texturen und dynamischen Kurven. Seine Produkte werden weltweit gesammelt und von vielen modernen Designern aufgegriffen.
© The Archers/Richard Petit
Die Archers
Projekt: Silver Lake House
Auftraggeber: Sharon Oreck & Bill Pope
Raum: Bibliothek
Ort: Los Angeles, CA, USA
Fertigstellung: 2017
Eine kadmiumgelb lackierte Wendeltreppe aus Metall ziert heute das Silver Lake House der Filmproduzentin Sharon Oreck und ihres Mannes, des Kameramannes Bill Pope. Sie ist das Werk der Archers, einer in Los Angeles ansässigen Gruppe von Designern, Architekten, Künstlern und Filmliebhabern, wie sie sich selbst beschreiben. Geschickt setzten sie ortsspezifische Möbel und Ausführungen ein und verleihen so jedem Projekt, ob privat oder öffentlich, seine eigene Identität. Die gelbe Treppe von Oreck und Pope ist ein solches Beispiel, dazu konzipiert, den Bewegungsfluss in dem an einem Berghang gelegenen Haus den 1940er-Jahren, das zuvor eine Folge schwer zugänglicher Räume war, zu verbessern. „Indem wir uns an den kastenförmigen Dimensionen des Hauses und seinen vielen neuen Fenstern mit Alurahmen orientierten und der Begeisterung des Auftraggebers für Farben und Muster nachkamen, bauten wir etliche farbenprächtige Hochglanzelemente ein und platzierten sie vor einem blassgrauen Hintergrund“, so die Designer. Das Ergebnis ist ein eklektischer, aber kohäsiver Raum, in dem Sammlerstücke problemlos neben zeitgenössischen Stücken und individuell gefertigten Designs angeordnet sind.
© Courtesy of Ashley Hicks Studio
Ashley Hicks
Projekt: Hicks Set In The Albany
Auftraggeber: Ashley Hicks
Raum: Wohnzimmer
Ort: London, England
Fertigstellung: 2015
Das Londoner Zuhause des Innenarchitekten Ashley Hicks befindet sich im Albany, einer sehr exklusiven Wohnanlage. Dieser Komplex beherbergte in den vergangenen zwei Jahrhunderten Persönlichkeiten wie Lord Byron, J.B. Priestly und Aldous Huxley. Ashley Hicks erbte das Interieur von seinem Vater, dem Innenarchitekten David Nightingale Hicks. Es kombiniert spielerisch den kühnen eklektischen Stil seines Vaters mit seinen eigenen modernen und anachronistischen Vorstellungen. Von der ursprünglichen Einrichtung seines Vaters ist wenig erhalten geblieben. An die Stelle der früheren Antiquitäten und Exponate traten Ashley Hicks’ zeitgenössische, farbenfreudige Objekte. Häufig hat er sie selbst geschaffen: ein riesiger, zu Türmen aufgestapelter Stein aus Giessharz, ein vergoldeter, handgeschnitzter Tisch aus Kiefernholz, Obelisken in hellen Farben oder mit Fotokopien von juwelenfarbigem Onyx bedeck. Alle verweisen auf schmucklose, subtilere Versionen im ursprünglichen Entwurf seines Vaters. Ashley Hicks’ Handschrift zeigt sich auch in den Sepia-Wandbildern, die im Wohnzimmer Konstantinopel im Jahre 1818 zeigen, von zeremoniellen römischen Anhängern überlagert und mit Darstellungen seiner Hühner bekrönt sind, die er in seinem Anwesen in Oxfordshire halt – eine typische Aneignung, wie er formuliert, „historischer Schichten mit modernem Flair“.
© Manolo Yllera
Lorenzo Castillo
Projekt: Casa Santiago Castillo
Auftraggeber: Santiago Castillo
Raum: Wohnzimmer
Ort: Madrid, Spanien
Fertigstellung: 2010
Als der spanische Maler Santiago Castillo beschloss, seine Wohnung in Madrid zu modernisieren, war Hilfe schnell zur Hand: Sein Bruder ist der international gefragte Innenarchitekt Lorenzo Castillo, der für seine Wohnprojekte, Hotels, Restaurants und Einzelhandelsgeschäfte bewundert wird. Lorenzo, der als Antiquitätensammler begann, entwirft seine eigenen Stücke sowie Stoffe, Borten und Wandbezüge für Gaston y Daniela. Auch ist er für seine geschickte Mischung alter und moderner Stücke bekannt. Nach Abschluss seines Kunstgeschichtestudiums an der Universidad Complutense in Madrid eröffnete er 1992 sein Geschäft, eine Fundgrube an erlesenen, leicht verstaubten Stücken. Schon bald baten ihn Kunden, ihre Interieurs zu entwerfen. Dazu kombinierte er seine Kenntnisse der Geschichte der Raumgestaltung mit einem zeitgenössischen Bewusstsein für Farbe und Muster. Das Loft seines Bruders stattete Lorenzo mit einem neuen schwarzen Holzboden aus, den eine beneidenswerte Sammlung von Vintage-Teppichen weicher wirken liess. Bequeme tabakfarbene Sitzmöbel schaffen ein Gegengewicht zu der weissen Wendeltreppe, und ein raffiniertes Farbschema rückt eine grosse Sammlung von Spiegeln, Vintage-Fotos und Santiagos eigenen Kunstwerken in den Mittelpunkt. Das Ergebnis ist zugleich elegant und einladend, klassisch und bequem – eben typisch Castillo.
© Kate Martin/Jan Showers
Jan Showers
Projekt: Belgravia-Stadthaus
Auftraggeber: Lauren Gurvich King & Jeremy King
Raum: Wohnzimmer
Ort: London, England
Fertigstellung: 2015
„Sie sollten in den Räumen gut aussehen und sich grossartig fühlen; warum sonst sollte man sich die Mühe machen?“ meinte einst die Designerin Jan Showers aus Dallas. Sie ist für ihre zeitlosen Interieurs bekannt, welche die Persönlichkeit und den Lebensstil ihrer Kunden widerspiegeln. Trends folgt sie nur in gemässigter Form und findet, dass jeder Raum zumindest ein antikes Stück enthalten sollte. 1999 gründete sie The Collection, eine Serie für Wiederverkäufer mit hochwertigen Möbeln und Leuchten. 2018 lancierte sie 1308, eine Möbelkollektion, die online und in ihrem Showroom im Dallas Design District erhältlich ist. Diesen hatte sie 1996 eröffnet, um antike und Vintage-Objekte zu verkaufen, die sie auf ihren Weltreisen sammelt. Lauren Gurvich King, die mit Designobjekten des 20. Jahrhunderts handelt, und ihr Ehemann Jeremy kauften dieses denkmalgeschützte Belgravia-Stadthaus von der renommierten Innenarchitektin Jane Churchill, die es in ihrem klassischen, eleganten Stil ausgestaltet hatte. Das Ehepaar bat Showers um Hilfe bei der Auswahl von Stoffen und Möbeln, die ihre extensiven Sammlungen abrunden sollten. Im Wohnzimmer stehen zwei Marco-Zanuso-Damensessel, die zusammen mit einem Paar Art-déco-Kranichstatuen den Kamin rahmen. Graue Wände ergänzen den von Suzanne Sharp für The Rug Company entworfenen Chiesa-Yellow-Teppich.
© Studio Joe Colombo/Ignazia Favata
Joe Colombo
Projekt: Visiona I
Auftraggeber: Joe Colombo
Raum: Wohn-/Schlafzimmer
Ort: Mailand, Italien
Fertigstellung: 1968
Joe Colombo begann seine Karriere in den 1950er-Jahren als Maler und Bildhauer. Als er sich in den 1960er-Jahren dem Design zuwandte, wuchs seine Bedeutung in einer Zeit, in der viele eine gemeinsame Utopie im Hinblick auf Architektur, Design und die Welt teilten. Dieses Interieur mit seinen kühnen Formen und eigenständigen Wohneinheiten wurde 1968 vom Chemiekonzern Bayer im Rahmen eines Projekts, einen offenen Wohnbereich auf einem Schiff zu gestalten, für die Kölner Möbelmesse in Auftrag gegeben. Mit dem Exponat sollten die Möglichkeiten neu entwickelter synthetischer Materialien für ein „Leben der Zukunft“ präsentiert werden. Die von Colombo entworfenen Einheiten betonten Flexibilität und Anpassbarkeit, unabhängig von baulichen Beschränkungen.
Interior. Die stilvollsten Wohnräume aus 100 Jahren
400 Räume in mehr als 25 Ländern von über 300 Architekten. Das alles bringt Prestel zwischen zwei samtene Buchdeckel. „Interior. Die stilvollsten Wohnräume aus 100 Jahren“ ist ein Bildband für all jene, die den neuen Ikea-Katalog sehnsüchtiger erwarten als Winter-Fans den ersten Schnee und für die Möbel mehr sind als Gebrauchswaren. William Norwich, „Interior. Die stilvollsten Wohnräume aus 100 Jahren“, Prestel, ca. 95.–