Als die Mauer fällt, steigt die Populärkultur zu einer neuen gesellschaftlichen Relevanz auf. Wind of Change? Eher ein Tsunami! Die Nineties spülen eine Flutwelle von Ohrwürmern, Kult-Movies, TV-Serien und Showstars über die immer stärker globalisierte Medienlandschaft. FACES rollt die Dekade auf – und veröffentlicht in loser Folge ein Lexikon zum Zeitalter von Girlgroups, GZSZ und – Grunge.
Orientierungslos, irritiert von bürgerlichen Idealen, vom Materialismus, vom Überfluss der Wohlstandsgesellschaft – eine verlorene Generation sucht etwas, an dem sie sich festhalten kann. Und findet es. In Seattle.
300 Regentage im Jahr, an den übrigen 65 hängt meist Nebel über der Küste im Nordwesten der USA: Das Wetter in Seattle spiegelt die Grundhaltung der so genannten Generation X – der plusminus zwischen 1965 und 1975 Geborenen. Während auf den Skateparks im sonnig-südlichen Kalifornien der Funpunk von Green Day aus den Ghettoblastern dröhnt, züchten desillusionierte Stromgitarristen in Seattles muffigen Probekellern eine derbere Spielart der Gitarrenmusik heran, auf den Spuren der Alternativrock-Veteranen Mudhoney, Pixies, Sonic Youth.
Kritiker finden bald ein Label dafür: „Grunge“ heisst fortan alles, was im Ansatz nach Verweigerung schreit. Die Smashing Pumpkins, Soundgarden oder die Stone Temple Pilots landen so in der Heavy Rotation von Radiostationen, von MTV und Viva. Nirvanas „Nevermind“ avanciert 1991 zum Millionenseller. Anti-Helden im Brockenhaus-Look (Flanellhemd, Zottelfrisur, Army-Boots) – so sehr sie sich dagegen wehren – werden zu Posterboys der Generation X, kommen zum Handkuss bei Top of the Pops und MTV Unplugged. Mit „Singles“ erhält das Genre einen eigenen Blockbuster, Kurt & Courtney sind die neuen Sid & Nancy. Oder Bonnie & Clyde auf Heroin, je nachdem.
Das ist mehr Publicity, als ein grenzdepressiver Jungjunkie erträgt: Kurt Cobain ballert sich 1994 ins Jenseits, später segnen unter anderem Layne Staley von Alice in Chains und Soundgarden-Röhre Chris Cornell das Zeitliche. Potentielle Nachfolger stehen allerorts in den Startlöchern, Silverchair in Australien, Ash in Grossbritannien, und – ähm – die Kelly Family in Deutschland? Bush-Sänger Gavin Rossdale entert die Klatschheftchen, die Post-Grunger Creed missbrauchen den Hype für Bekehrungsversuche. Pearl Jam indessen schwenken bis 2020 das Fähnchen der Aufrechten. Wenn auch inzwischen mit ganz anständigen Frisuren.