Berlin Fashion Week: Inmitten des Trubels rund um Laufstege und neue Kollektionen lenkt eine Performance den Blick auf ein totgeschwiegenes Problem, das selten mit der Modewelt in Verbindung gebracht wird, aber direkten Bezug zur Textilproduktion hat – Säureangriffe.
Die stille Mahnung in Rosa
Sommer. Berlin. Fashion Week – Alles dreht sich um Ästhetik, Schnittkonstruktionen, Silhouetten. Doch während Models über die Laufstege schreiten, spielt sich vor den Türen der hochfrequentierten Fashion Shows von Richert Beil, Marc Cain, Haderlump Atelier Berlin und Kilian Kerner etwas ungewöhnliches ab: Eine blonde Frau in einem pompösen, rosaroten Kleid steht regungslos in der Menge. Die linke Seite des eleganten Stoffes ist von einem großen schwarzen Fleck durchzogen, so dass er zerfressen, beinahe verbrannt wirkt. In ihren Händen hält sie weiße Schilder mit roten Aufschriften wie „Easy to Access. Easy to Throw.“ oder „Acid that scars for life.”
Es handelt sich dabei um das Model Daniela Suttrop. Sie ist Teil der Kampagne „End Acid Attacks“ der britischen NGO ASTI (Acid Survivors Trust International). Ihr Ziel: auf ein tabuisiertes Verbrechen aufmerksam zu machen – und auf die Rolle, die die Modeindustrie dabei spielt.


Mode darf keine Narben hinterlassen
Weltweit werden jährlich über 10’000 Säureangriffe dokumentiert, die Dunkelziffer ist ungewiss. „Viele Länder verfügen über keine spezifischen Gesetze zur Erfassung solcher Taten. Aus Angst vor Vergeltung oder mangelndem Vertrauen in Polizei und Justiz werden viele Fälle gar nicht erst gemeldet”, wie Fatma O. im Namen der Organisation erzählt.
Zahlen aus Länder mit entsprechenden Gesetzen:
- Großbritannien (2024): 464 gemeldete Angriffe, rund zwei Drittel der Betroffenen sind Männer.
- Indien (2021): etwa 200 Fälle, zwei Drittel davon Frauen und Mädchen.
- Pakistan: ebenfalls rund 200 Fälle jährlich, 85 % davon in der Provinz Punjab – bekannt als „Baumwollgürtel“. Dort wurde 2025 das Säurekontrollgesetz verabschiedet.
In Italien, Uganda, Iran, Jamaika oder Mexiko sei das Phänomen ebenfalls dokumentiert – „es ist ein globales Problem, das unabhängig von Kultur oder Kontinent auftritt”, sagt Fatma.
Die Verbindung zur Modeindustrie
Viele dieser Länder produzieren einen Großteil unserer Kleidung. In Textilfabriken liegen hochkonzentrierte Chemikalien oft ungesichert herum. Was eigentlich für die Färbung von Stoffen gedacht ist, kann so in Sekunden zur Waffe werden.
Die Kampagne „End Acid Attacks“ konfrontiert die glitzernde Fashion-Welt mit dieser unbequemen Wahrheit und ist eine schmerzhafte Erinnerung daran, was Mode wirklich kosten kann.
ASTI prüft derzeit ähnliche Aktionen in Paris und London. Doch EU-Richtlinien zur Nachhaltigkeitsberichterstattung und zur Sorgfaltspflicht wurden auf frühestens 2027 verschoben – ein Rückschlag für alle, die Konzerne zu mehr Transparenz bewegen wollen.
Laut dem Pulse of the Fashion Industry Report von 2017 bleibt der Einsatz von Chemikalien einer der „am wenigsten transparenten Bereiche“ der Lieferketten. 43 Millionen Tonnen werden jährlich in der Textilproduktion eingesetzt – häufig ohne ausreichende Sicherheitsstandards.

Säureangriffe als patriarchale Gewalt
Oftmals gelten diese Taten als geschlechtsspezifisch: Vergeltung gegen Frauen, die Nein gesagt haben – zu einem Mann, zu einer Ehe, zu Sex.
Opfer von Säureverletzungen leiden an großflächigen Narben, lebenslangen Schmerzen, Erblindung, soziale Ausgrenzung und Scham, die eigentlich Täter, nicht Opfer treffen sollte. Bei fehlender medizinischer Versorgung sterben viele an den Folgen.
Die Absicht der Täter: nicht nur körperliche Verletzung, sondern auch die Zerstörung sozialer und wirtschaftlicher Perspektiven durch Stigmatisierung der Überlebenden. Internationale Gerichte stufen Säureangriffe inzwischen als Akt extremer Grausamkeit und Folter ein.
Das fordert ASTI
„Die Branche muss Verantwortung übernehmen“, sagt ASTI-Direktor Jaf Shah.
Konkret heisst das:
- Nationale Erfassung und Überwachung von Säureangriffen
- Risikoprüfung entlang der Lieferkette – inklusive Chemikalienmanagement
- Zugang zu medizinischer und psychologischer Versorgung für Überlebende
- Konsequente Strafverfolgung der Täter
- Sicherheitsstandards und Schulungen für Fabriken und Zulieferer
- Partnerschaften zwischen Modeunternehmen und NGOs
Reaktionen der Labels, vor deren Shows die Aktion stattfand? Bisher keine.
Wissen rettet Leben – Erste Hilfe bei Säureangriffen
Wenn ein Säureangriff passiert, zählt jede Sekunde. Laut dem britischen Gesundheitsdienst NHS England und der British Association of Plastic, Reconstructive and Aesthetic Surgeons (BAPRAS) sind folgende Schritte entscheidend:
BERICHTEN: Sofort Notruf wählen. „Säureangriff“ deutlich sagen. Nicht auflegen.
ENTFERNEN: Kleidung um die betroffene Stelle vorsichtig entfernen – ohne die eigene Haut zu gefährden.
SPÜLEN: Mit viel Wasser den betroffenen Bereich (insbesondere Gesicht/Augen) spülen – mindestens 20 Minuten lang.

Auf ihrer Website erfährst du mehr über die Arbeit von Acid Survivors Trust International.
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Fotos: © A.S.T.I