Nachhaltigkeit hier, Nachhaltigkeit dort. Und wir sitzen mittendrin. Vor lauter Greenwashing schwirrt uns längst der Kopf und zwar so, dass wir geneigt sind, alles hinzuschmeissen. Thekla Wilkening wirft uns mit ihrem neuen Buch „Das Bio-Pizza Dilemma“ ein Rettungsseil und zeigt auf, dass wir nicht alleine die Welt retten müssen.
FACES: Mit der Kleiderei und Stay Awhile hast du bereits zwei Mal versucht, einen Miet-Service für Mode zu lancieren. Glaubst du noch immer an das Konzept, und was würdest du rückblickend anders machen?
Thekla Wilkening: Ja. Ich glaube immer noch, dass wir in Zukunft nicht mehr die ganze Kleidung, die wir alltäglich tragen, besitzen werden. Ich denke, es wird ein hybrider Kleiderschrank aus Lieblingsstücken, Leihstücken und Secondhand sein.
F: Zwei Mal bist du mit deiner Idee eines Verleihservices gescheitert. Woran lag es?
TW: Ich würde aus heutiger Sicht sagen, dass wir mit unserem allerersten Business-Modell im Jahr 2012, nämlich dem lokalen Store in der Hamburger Hochstrasse auf St. Pauli, sehr richtig lagen. Und heute führt Lena Schröder das Kleiderei-Konzept ja fort, mit einem Store in Köln und einem in Freiburg, den Maria Schorn leitet. Ich denke, dass nachhaltige Konzepte sich offline sehr gut tragen können, da die Community an diesen Orten zusammen kommt. Die Energie, die damit entsteht, ist stärker als die in der Online-Welt, in der wir uns mit Kleiderei.com und Stay Awhile aufgehalten haben.
„Wenn auf einer Jeans ‚better‘ Denim steht – ist das dann schon gut genug?“
F: Kann man sagen, dass Corona deinem Service Stay Awhile das Genick gebrochen hat?
TW: Stay Awhile war angeschlossen an eine grössere Firma, die schnell Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Kurzarbeit schicken musste. Ich habe das Unternehmen von aussen beraten, und mein Vertrag wurde da auch schnell aufgelöst – um Kosten zu sparen. Wenn ein Unternehmen, und vor allem ein junges, an allen Ecken und Enden sparen muss – dann ist es schnell vorbei.
F: Was ist die wichtigste Lektion, die du aus diesen beiden Erfahrungen ziehst?
TW: Dass es richtig ist, alles auszuprobieren! Auch wenn ich hinterher denke, dass wir am Anfang am nächsten dran waren. Aber wer weiss – vielleicht stimmt das für damals auch nicht? Immerhin ist das ja beinahe zehn Jahre her.
F: Worin liegt deine Motivation, es immer wieder aufs Neue zu versuchen?
TW: Gute Frage. Mir wurde schon sehr früh nachgesagt, dass ich ein extrem hohes Urvertrauen in die Welt hätte. Ich glaube fest daran, dass wir viel mehr gestalten können, als wir denken – und dass es am Ende unsere eigene Entscheidung ist. Das gilt natürlich nur für alle Menschen, die finanziell eine gewisse Sicherheit haben und sich keine Sorgen um Geld für ihr Essen machen müssen.
F: Was ist die grösste Sauerei der Mode-Branche?
TW: Da sind wir schon beim Thema: Für mich persönlich ist es die soziale Ungerechtigkeit, die durch diese Industrie so massiv verstärkt wird. Menschen, die zu wenig Geld für ihre Arbeit bekommen, werden von dieser wiederum abhängig und können kaum noch selbstbestimmt handeln. Das ist Ausbeutung und Sklavenhaltung.
F: Welcher Umstand in der Produktion von Kleidung schockiert dich am meisten?
TW: Wie hunderttausende Menschen ausgebeutet werden können – damit ein paar wenige Menschen sehr, sehr reich werden. Und dass dies global erlaubt ist. Teilweise liegen die gesetzlichen Mindestlöhne einiger Länder so niedrig, damit überhaupt Industrie ins Land kommt. Da beschützt dann die Regierung ihre eigenen Bürgerinnen und Bürger nicht. Und grosse Konzerne, hier im globalen Norden, profitieren massiv davon.
„Der Wunsch nach Perfektion ist der Killer.“
F: Was braucht es, damit endlich auch die Grossen der Branche nachhaltig produzieren?
TW: Gesetze. Es müsste illegal sein, mit Produkten global zu handeln, die weder fair noch mit nachhaltigem Chemikalienmanagement produziert wurden. Und das global, zum Beispiel mit Im- und Export-Kontrollen.
F: Braucht es die Fashion Week, und inwiefern steht sie einem nachhaltigen Mode-Konsum vielleicht sogar im Weg?
TW: Ich denke, dass Orte, an denen Menschen zusammenkommen, immer hervorragend sind für den Wandel. Und es sind gerade diese Events, die Trends setzen und Dinge verändern können. Dazu gehört natürlich Mut der Veranstalterinnen und Veranstalter. So hat die Copenhagen Fashion Week noch vor der Pandemie bekannt gegeben, dass sie einen Drei-Jahres-Plan verfolgt, der sicherstellt, dass Marken nachhaltige Entwicklungen ernst nehmen, und zwar ganzheitlich. Das sind die Beispiele, die wir brauchen.
F: Wie viele Kleidungsstücke besitzt du, und welches ist das Teil mit dem für dich grössten emotionalen Wert?
TW: Ich würde schätzen, so etwa 150 bis 200 Stück. Ich versuche, alle Stücke mit Erinnerungen aufzuladen, mir einzuprägen, was ich mit ihnen erlebt habe und so wirkliche Partner-In-Crime im Schrank zu haben. Stiefel, die sich direkt nach Festival und Tanzen anfühlen, eine Barbour-Jacke, die sofort ein Schutzschild um mich herum bildet, wenn ich nichts von der Welt will, oder ein geblümtes Wickelkleid, das ruft „Ja, hier bin ich“.
F: Wenn H&M eine Conscious-Linie lanciert oder Onlineshops einzelne Labels als vermeintlich nachhaltig ausweisen: Stimmt dich das zuversichtlich, oder siehst du das kritisch, und wenn ja, inwiefern?
TW: Es kommt auf die Kommunikation an. Aber grundsätzlich schätze ich es mehr, wenn grosse Brands ihre Nachhaltigkeitsbemühungen erstmal für sich behalten, bis sie einen wirklichen Wandel geschafft haben. Denn vieles andere ist Greenwashing und verwirrt die Kundinnen und Kunden. Wenn auf einer Jeans „better“ Denim steht – ist das dann schon gut genug?
F: Zurzeit ist Secondhand-Mode im High-End-Bereich gefragt wie nie. Das treibt die Preise von Mode aus zweiter Hand allerdings in die Höhe und kurbelt auch hier den Konsum an. Ist das gut oder schlecht?
TW: Ich finde es gut. Es gibt wirklich nichts Besseres, als Produkte weiterzunutzen, die schon produziert wurden. Ob Mobiliar, Mode oder Autos. Es schont Ressourcen, misst den Dingen einen Wert bei, der über die „Kauflust“ hinausgeht und spornt Herstellerinnen und Hersteller an, Produkte zu produzieren, die langlebig sind.
F: Wie definierst du für dich Nachhaltigkeit? Und was ist das Problem mit dem Nachhaltigkeitsbegriff?
TW: Ich halte es schon mit der klassischen Erklärung, dass Nachhaltigkeit bedeutet, dass wir etwas unendlich oft wiederholen können – ohne die planetaren Grenzen zu übertreten oder die natürliche Regenerationsfähigkeit unserer Erde zu strapazieren. Dass wir im Einklang leben mit unseren natürlichen Ressourcen, das betrifft Umwelt und Lebewesen, also auch alle Tiere und Menschen. Und da sehe ich das Problem: Häufig wird der Nachhaltigkeitsbegriff auf ökologische oder recycelte Materialien angewendet, schliesst aber soziale Gerechtigkeit aus. Es gibt eben keine allgemeingültige Definition, die vor vor dieser Art Greenwashing schützt.
F: Woran scheitert unsere Gesellschaft?
TW: An einer falschen Anspruchshaltung. Wir Menschen sind heute die einzigen Lebewesen, die sich komplett frei bewegen können. Wir haben uns eine Welt geschaffen, die uns alle Freiheiten bietet. Und trotzdem rennen wir Erfolg, Konsum, Geld hinterher und halten dafür andere Menschen klein, die dann keine Wahl mehr haben. Ich wünschte mir, wir Menschen würden unser Leben mehr als die „Freieste Phase“ unseres Daseins auf der Erde ansehen. Die Zeit, in der wir lieben, tanzen, küssen können. Familie, Gemeinschaft, Freundlichkeit und gegenseitiger Support sollten unsere Werte sein, bevor dann mit dem Tod ein Grossteil der Masse unseres Körpers in Erde übergeht. Ich weiss, das klingt sehr hippiemässig, aber ich denke, es täte uns nicht schlecht.
F: Wo liegen die Grenzen der Nachhaltigkeit?
TW: Fairness. We can’t be free in an unfair world.
F: Du möchtest nun als Beraterin in Sachen Nachhaltigkeit arbeiten. Wo geht das für dich hin, und welchen neuen Problemen stellst du dich?
TW: Dem sehe ich ganz gelassen entgegen. Ich denke, mit so viel Wissen, wie ich es über die letzten Jahre angehäuft habe, ist es nur logisch, an irgendeinem Punkt damit zu beginnen, dieses weiterzugeben. Ob das klassische Unternehmensberatung ist oder weitere Bücher sind – oder ein hybrider Mix aus beidem, das werden wir sehen!
F: Textil, Glas oder Plastik, schlussendlich geht es immer um einen Kreislauf. Wie verbessern wir diesen, und was sind deine Ideen und Leitsätze dazu?
TW: In erster Linie beginnt es mit einer einfachen Frage: Was soll mein Produkt können? Wie lange soll es halten? Was soll es der Welt geben? Daraus leiten wir dann ab, welche Kreisläufe die richtigen sind. Produkte, die beispielsweise ewig lange bei Menschen zu Hause sind, können prima gesammelt, recycelt oder weiterverkauft werden. Da lohnen sich aufwändige Verfahren. Plastik, das Schokoladenriegel umwickelt und ständig von Menschen auch in der Natur weggeworfen wird, ist ein anderer Fall: Da wäre es doch sinnvoll, es wäre biologisch abbaubar.
F: Wie hilfst du nun Unternehmen, nachhaltig zu produzieren?
TW: In erster Linie geht es mir darum, Klarheit in dieses Nachhaltigkeitsthema zu bringen. Wo möchte die Firma hin, was sind die Ziele und Visionen. Und wer ist die Zielgruppe? Danach kann entsprechend angepasst werden. Eine lokale Textilproduktion in Deutschland macht zum Beispiel nur Sinn, wenn die potenzielle Kundin auch bereit ist, dafür zu zahlen – und das Kleidungsstück lange behalten möchte.
F: Es gibt ja zahlreiche Nachhaltigkeits-Siegel. Wie findet sich der Konsument in diesem Dschungel zurecht, und wie wichtig sind diese Siegel für einen nachhaltigen Konsum?
TW: Es ist eigentlich fast unmöglich, sich zurecht zu finden. Grundsätzlich gibt es das Fairtrade-Siegel, das faire Arbeitsbedingungen garantiert. Das ist schon mal super und sollte auf jeden Fall immer vorgezogen werden, bei Kaffee zum Beispiel. Im Modebereich gibt es auch das Fair-Wear-Siegel, das ähnlich funktioniert. Und GOTS, da geht es dann um den textilen Standard. Überblick dazu verschafft die Website Siegelklarheit.de. Ich rate Freundinnen und Freunden immer: Wenn nicht klar erkennbar ist, ob das Produkt nun fair oder bio ist – dann schicke eine DM, eine E-Mail oder einen Tweet an das Unternehmen. Damit zeigen wir als Bürgerinnen und Bürger, dass uns das Thema wichtig ist.
F: Du hast mit „Das Bio-Pizza Dilemma“ ein Buch geschrieben, das den Konsumenten von seiner Verantwortung der Rettung der Welt freispricht. Wenn nicht der Konsument, wer trägt dann die Verantwortung?
TW: Die Politik muss Rahmenbedingungen schaffen, die es Konzernen unmöglich machen, weiter so zu produzieren wie bisher. Konzerne sollten dies eigentlich auch selbst anstreben – aber leider ist Gewinnmaximierung doch das höchste Ziel fast aller Unternehmen. Wir Bürgerinnen und Bürger können uns politisch beteiligen und aktiv werden.
F: Ist Nachhaltigkeit tatsächlich „nur“ Einstellungssache?
TW: Ich denke, das „nur“ ist es eben. Nachhaltigkeit ist Einstellungssache. Das klingt leichter als getan – und wird uns auch nicht wirklich beigebracht.
F: Kannst du nachvollziehen, dass Menschen heute auch durch den Druck von aussen etwas nachhaltigkeitsmüde sind?
TW: Ja! Mehr als das. Darum ja auch das Buch. Wir haben uns viel Mühe gegeben, Zusammenhänge greifbar zu machen und kurzweilig zu erzählen. Es gibt persönliche Geschichten, erfolgreiche und nicht so erfolgreiche, mit denen wir inspirieren und motivieren möchten.
F: Ist es in Ordnung, den Müll zu trennen, Bio-Gemüse zu kaufen und Kleidung zu recyceln, dann aber mit dem Flugzeug um die halbe Welt in den Urlaub zu fliegen?
TW: Ja. Fliegen ist natürlich ein besonders heikles Thema, weil Langstreckenflüge wirklich einen sehr hohen CO2-Ausstoss verursachen. Kompensations-Zahlungen sind da schon ein gutes Mittel. Aber grundsätzlich auf jeden Fall: Der Wunsch nach Perfektion ist der Killer. Ich sage immer: Jede nachhaltige Entscheidung ist besser. Schaue da hin, wo es dir gelingt. Der Rest kommt dann von selbst.
F: Was muss die Politik tun, damit die Welt nachhaltiger wird?
TW: Lieferketten-Gesetze implementieren, Freihandelsabkommen an soziale Fairness koppeln, Unternehmen für ihren Müll verantwortlich machen, Stichwort „Erweiterte Produktverantwortung“, Steuererleichterungen schaffen für Start-ups, die jetzt schon versuchen, es richtig umzusetzen, und Sanktionen einführen, wenn Ziele nicht erreicht werden.
F: Und was kann jeder Mensch selber tun, um die Welt ein bisschen besser zu machen?
TW: Nachfragen, hinhören, in sich rein fühlen. Ich denke, wir alle wissen eigentlich sehr gut, was umweltfreundliche Entscheidungen sind, und welche eher nicht. Dieser Intuition dürfen wir wieder mehr vertrauen!
F: Was müssen wir uns schleunigst abgewöhnen?
TW: Zu glauben, dass Konsum glücklich macht.
F: Was gibt dir Hoffnung?
TW: Die Entscheidung, immer wieder Hoffnung zu haben.
F: Wie stellst du dir unsere Welt in zwanzig Jahren vor?
TW: Ich wünsche mir eine Welt, in der wir im Supermarkt selbstverständlich wissen, dass alles fair und ökologisch produziert wurde. Ich wünsche mir eine Welt, in der jeder Mensch einen Lohn erhält, der das Leben gestaltbar macht. Ich wünsche mir eine Welt, in der wir weniger besitzen, mehr teilen, tauschen, leihen und Dinge wertschätzen. Und die Natur wertschätzen. Das ist natürlich utopisch für die nächsten zwanzig Jahre – aber meine Vision am Horizont.
F: Haben wir die Chance, das Ruder noch rumzureissen?
TW: Immer!
Das Bio-Pizza Dilemma
Mit Bio-Pizza retten wir nicht die Welt – zumindest nicht nur damit. Thekla Wilkening und Robin Haring nehmen den Konsumentinnen und Konsumenten die Last von den Schultern, mit dem Kauf nachhaltiger und fairer Produkte vom Aussterben des Regenwaldes bis zur Ausrottung der Eisbären alle Probleme der Gegenwart zu lösen. „Das Bio-Pizza Dilemma“ nimmt die Politik in die Verantwortung und damit den Druck von des Normalos Brust, immer alles richtig machen zu müssen. Wilkening und Haring erklären nachhaltiges Handeln, schaffen Mut und Inspiration und geben uns damit ein Licht am Ende des Tunnels, das wir dringend brauchen, um nicht auf halber Strecke wegen Überforderung, Verwirrung und Frustration liegen zu bleiben. Thekla Wilkening und Robin Haring, „Das Bio-Pizza Dilemma“, Redline Verlag, ca. 18.–